Dr. Ralph-Christian Ohr ist Experte für Corporate Innovation und berät Unternehmen verschiedener Branchen zu den Themen Dual Innovation, Ambidextrie und Scaling-Up. Er verfügt über langjährige Erfahrung in der Leitung von Innovationsprogrammen und ist Co-Autor des Buches “Scaling-Up Corporate Startups: Turn Innovation Concepts Into Business Impact”.
Hallo Ralph, du berätst Unternehmen zu Innovationsprogrammen und deren Skalierung im Unternehmen. Mit welchen Problemen kämpfen deine Kunden?
In den meisten Unternehmen läuft das Kerngeschäft in einem etablierten System aus festen Strukturen, Prozessen und Metriken. Das macht es schwer, neue Geschäftsmodelle und Technologien einzuführen, weil sie in ein laufendes System und eine feste Konfiguration eingreifen.
Manche Branchen tun sich dabei leichter, weil laufende Veränderungen ohnehin zu Kerngeschäft gehören. Im Fashion Retail muss beispielsweise nach jeder Fashion Show die Supply Chain bis zum Onlineshop neu umgestellt werden. Auch im Gaming-Bereich oder der Softwareentwicklung erfolgen viele Innovationen aus dem Tagesgeschäft heraus. Andere Branchen, wie Industriegüter oder Chemieverarbeitung sind hingegen tendenziell innovationsresistent.
Daher wird Innovation hier oft in ‘geschützten Bereichen’ ausserhalb des Kerngeschäftes entwickelt. Hier besteht dann aber die Herausforderung, diese Projekte oder ‘Corporate Startups’ in einem Skalierungsprozess wieder in das Kerngeschäft zu überführen.
Viele Unternehmen versuchen, mit dem Konzept der Ambidextrie sowohl Innovation als auch Kerngeschäft zu bewerkstelligen. Was steckt hinter diesem Begriff?
Ambidextrie beschreibt die Bestrebungen, das bestehende Kerngeschäft zu optimieren und anzupassen (Exploitation) und gleichzeitig radikale Innovationen und Neugeschäft voranzutreiben (Exploration). Bei Exploitation sind Mitarbeiter damit beschäftigt, inkrementelle Innovationen (z. B. die x-te Version eines Produktes) zu entwickeln und das Tagesgeschäft laufend zu optimieren. Bei Exploration denkt man aber über neue Technologien und Geschäftsmodelle nach.
Exploration und Exploitation können aufgrund ihrer quasi inkompatiblen Anforderungen nur in den wenigsten Fällen gemeinsam in einem Geschäftsbereich stattfinden. Deshalb erfolgt der Exploration-Bereich in den meisten Unternehmen in einer organisatorisch separaten Einheit, die vom Tagesgeschäft abgekoppelt ist. Die heißt dann Innovationseinheit, Innovation Lab oder Accelerator Unit und schafft einen Raum, wo neue Ideen wachsen können, ohne vom Kerngeschäft absorbiert und ‘passend gemacht’ zu werden. Dafür braucht es auch eigene Prozesse, Governance und Erfolgsmetriken, die sich vom Tagesgeschäft unterscheiden.
Wie bringt man Innovationen aus solchen Einheiten dann in das Tagesgeschäft?
Das ist die große Herausforderung, weil es zwangsläufig zu Konflikten mit dem Kerngeschäft kommt und Innovationen deshalb nicht einfach so integriert werden können. Für Produktmanager ist es meistens zu viel Risiko, weil die Innovation noch zu unreif ist und der Nachweis der Profitabilität fehlt. Das gefährdet dann die finanziellen Ziele.
Das Kernproblem ist, dass die meisten Unternehmen keinen systematischen Ansatz verfolgen, um die Skalierung von Anfang bis Ende umzusetzen. Es wurde zwar vorgegeben, Innovationen zu entwickeln, aber nicht zu Ende gedacht, wie sie dann in das Geschäftsportfolio zu integrieren sind. Deshalb versanden viele Innovationsprojekte, weil ihr Output sich noch nicht in einen etablierten Geschäftsbereich integrieren lässt.
Für eine erfolgreiche Skalierung müssen bestimmte Aspekte angepasst werden. Dazu gehört vor allem die Governance, um Ressourcen zuweisen und Metriken festlegen zu können, die den Fortschritt des Projekts messen. Diese Metriken dürfen nicht zu quantitativ und finanzbasiert sein, weil die Projekte dafür noch zu unreif sind und Profitabilität erst später an Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig dürfen sie auch nicht zu qualitativ sein, damit das Kerngeschäft den Reifegrad und Fortschritt des Projektes einordnen kann.
Außerdem ist es entscheidend, jemanden im Leadership-Team zu haben, der im Zweifelsfall Entscheidungen gegen das Tagesgeschäft trifft, um ein Innovationsprojekt zur Entfaltung kommen zu lassen. Denn es kommt zwangsläufig zu Konflikten und Reibungspunkten. Deshalb braucht es von Beginn an eine klare Zielsetzung und die richtigen Leute, die solche Projekte innerhalb der Organisation moderieren, treiben und schützen können.
Du hast einen Dual Innovation - Ansatz entwickelt, um diese Probleme zu adressieren. Wie unterscheidet er sich von Ambidextrie?
Dual Innovation baut auf der Ambidextrie auf und ergänzt die Bereiche Explore („Create the New“) und Exploit („Optimize the Core“) um eine zusätzliche Ebene („Reshape the Core“), die die Schnittstelle bedient und beide Bereiche zusammenführt. Dabei wird ein Interface geschaffen, in dem Kompetenzen und Aspekte aus beiden Bereichen zusammengeführt werden können.
Will man beispielsweise ein Geschäftsmodell in wichtigen Aspekten anpassen, kann man das in diese Schnittstelle ziehen und dort auf die explorativen Kompetenzen und Technologien zurückgreifen, die normalerweise zu einem anderen System gehören und mit anderen Prioritäten und Denkweisen funktionieren. Andersherum kann man in diesem Bereich die Innovationen aus der separaten Einheit mit dem Tagesgeschäft verknüpfen und dabei auf die notwendigen Ressourcen und Mitarbeiter zurückgreifen, um das Projekt weiter in die Organisation zu bringen und reifen zu lassen.
Wie dieser Interface-Bereich organisiert ist, hängt dabei von den individuellen Eigenschaften des Unternehmens ab sowie der Ausrichtung der Innovationseinheit und dem Innovations-Reifegrad der Geschäftsbereiche.
Was sind die Erfolgsfaktoren für die erfolgreiche Umsetzung von Dual Innovation?
End-to-End-Planung: Eine explorative Innovationseinheit muss von vornherein zu Ende gedacht, an der Unternehmensstrategie ausgerichtet und mit den nötigen Strukturen ins Leben gerufen werden. Dazu gehören klare Zielsetzung, Abstimmung mit dem Kerngeschäft als auch passende Governance, Metriken und Prozesse. So lassen sich beide Bereiche später einfacher zusammenführen.
Leadership-Unterstützung: Innovationsprojekte sind langwierig und es kommt immer wieder zu Spannungen mit dem Tagesgeschäft. Deshalb brauchen sie die nötige Unterstützung von oben, um auch in schwierigen Zeiten nicht zugunsten des Kerngeschäfts vernachlässigt oder sogar aufgegeben zu werden.
Die richtigen Personen: Gerade an der Schnittstelle zwischen Tagesgeschäft und Innovationen braucht es Mitarbeiter, die sich in beiden Bereichen auskennen. Einerseits müssen diese ‘Hybriden’ unternehmerisch und agil genug agieren, um ein Innovationsprojekt voranzutreiben. Andererseits müssen sie das Kerngeschäft gut genug kennen, um interne Widerstände und Bedenken moderieren zu können. In diesem Bereich findet man am schwersten die richtigen Leute und muss sie im Normalfall erst intern aufbauen.
Je nach Organisation sind diese Punkte unterschiedlich kompliziert umzusetzen, aber erfahrungsgemäß sind das die drei Eckpfeiler für erfolgreiche Umsetzung. Aber in den meisten Unternehmen wird heute noch nicht einmal einer dieser Aspekte systematisch angegangen.