Organisationale Ambidextrie verstehen
Wachstum und Erfolg durch Effizienz und Skalierung als gemeinsamer Nenner etablierter Unternehmen
Versucht man Ursprung und Grundlage wirtschaftlichen Erfolgs etablierter Unternehmen zu entschlüsseln, so lassen sich Umsatzwachstum und Gewinnmargen fast immer durch Kostenkontrolle, Effizienz, und Skalierungseffekten begründen. Das wird vor allem bei Betrachtung der großen, weltweit bekannten deutschen Industrieunternehmen deutlich. Jahrzehntelang haben sich Siemens, Bosch, BMW und Co. durch einzigartige Effizienzsteigerungen von Produktion und Prozessen an die Spitzen ihrer jeweiligen Branchen gearbeitet. Weniger durch Musterbruch und bahnbrechende Innovationen als durch ständige inkrementelle Verbesserungen, Einsparungen und Prozessoptimierungen entstanden so mächtige Weltmarktführer.
Digitale Transformation: Das plötzliche Ende von Erfolg und Wettbewerbsvorsprung durch Effizienz und Größe
Im Zuge der digitalen Transformation fingen in den letzten Jahren allerdings auch diese Giganten langsam an zu wanken. Wirtschaftliches Wachstum weiterhin rein über Effizienz und inkrementelle Verbesserung bestehender Produkte zu erhalten und voranzutreiben, wird zunehmend zur schwierigeren Aufgabe. Das liegt zum einen am technischen Fortschritt, welcher disruptive und somit markt-verändernde Innovationen hervorbringt sowie Effizienzsteigerungen immer einfacher und erschwinglicher für eine breitere Masse an Unternehmen macht. Zum anderen aber auch an der erhöhten Dynamik und Geschwindigkeit von Märkten, die von globalem Wettbewerb geprägt sind und in welchen die größten Konkurrenten des nächsten Jahres heute teils noch gar nicht existieren. Immer deutlicher übertrumpfen junge, agile, dezentrale Organisationen mit schnellen Prozessen und dadurch hoher Innovationskraft die etablierten, langsamen Riesen.
Zwei Formen des Lernens treiben wirtschaftliches Wachstum
Beleuchtet man wirtschaftlichen Erfolg und Wachstum einmal genauer, ist dies grundlegend immer auf eine von zwei Arten des Lernens zurückzuführen:
Der erste Weg beschreibt dabei, dass Unternehmen wachsen, weil sie mehr darüber lernen, wie sie die aktuellen Geschäftsmöglichkeiten bestmöglich (aus)nutzen. Agieren Unternehmen auf diese Art und Weise, spricht man auch von “Execution”, in einem wissenschaftlicheren Kontext auch von “Exploitation”. Unternehmen versuchen hierbei, ihre heutigen Geschäfte (Produktion, Prozesse, etc.) immer effizienter zu gestalten. Diese Effizienzsteigerung bildet die Grundlage für Verbesserung und somit Wachstum. Stabilität, Routinen, Sicherheit und Repetition stehen im Fokus von Organisationen mit dieser Wachstumsgrundlage. Wie bereits erwähnt, ist dieses durch Effizienz getriebene Wachstum in der heutigen Wirtschaftswelt alleine jedoch nicht mehr ausreichend, um sich gegen den Wettbewerb durchzusetzen und sich langfristig zu behaupten.Wissenschaftler sprechen hier auch von der “Execution Trap”, in die sich etablierte Unternehmen im Streben nach kurzfristiger Gewinnmaximierung und Effizienz begeben.
Alternativ können Unternehmen aber auch dadurch wachsen, dass sie zu neuen Technologien, sowie Markt- und Geschäftsmöglichkeiten lernen. Der Fokus dieser Art des Lernens liegt stärker auf Kreativität, Innovation, Experimentieren, Wandel und Flexibilität. Statt heute effizient zu sein, streben diese Organisationen nach Anpassungsfähigkeit und Agilität gegenüber Chancen und Herausforderungen der Zukunft. Dieser Lernmodus, als Gegenstück zu “Execution”, wird “Search”, oder in wissenschaftlichen Kreisen auch “Exploration” genannt.
Zusammenfassend lassen sich diese zwei Formen des Lernens, Execution und Search beziehungsweise Exploitation und Exploration, also als wichtigste Treiber wirtschaftlichen Erfolgs verstehen. Für nachhaltiges Wachstum in der heutigen, von der digitaler Transformation geprägten Wirtschaftswelt wird die Kombination der beiden Modi unabdinglich.
Der Schlüssel zum Erfolg heute und in der Zukunft heißt Ambidextrie
Die Lösung des Wachstumsproblems lautet also in der Regel nicht als Unternehmen ausschließlich im “Search” Modus zu bleiben und die Execution zu vernachlässigen. Effizientes Arbeiten bleibt selbstverständlich weiterhin wichtig, wenn es auch nicht mehr als alleiniger Erfolgsgarant funktionieren kann. Gefragt ist die richtige Balance aus Effizienz heute (Execution) und Anpassungsfähigkeit für die Zukunft (Search). Die Fähigkeit, diese scheinbar gegensätzlichen Ziele zu verfolgen, wird als Ambidextrie bezeichnet und erlaubt Unternehmen, kurzfristige Leistung sowie langfristigen Erfolg zur gleichen Zeit zu sichern (Tandemploy, 2018).
Wie sieht organisationale Ambidextrie in der Praxis aus?
Haben Unternehmen die Relevanz von Ambidextrie für sich erkannt, sollten sie den neuen Modus für sich in die Praxis umsetzen. Doch wie sieht das aus? Generell kann Ambidextrie auf drei Leveln gelebt werden:
Ambidextrie in der Praxis - Level 1: Die Organisation
Für Organisationen bedeutet Ambidextrie zu realisieren meist, ein neues, duales Betriebssystem zu entwickeln. Hierarchien bleiben wichtig für Formen von Stabilität und Kontrolle, die vor allem im Execution Modus noch häufiger eine Rolle spielen. Die bestehende Hierarchie mit der das heutige und bekannte Geschäft effizient organisiert wurde, genügt den Ansprüchen globaler, dynamischer und komplexer Märkte jedoch nicht mehr allein. Doch auch Hierarchien einfach “flach zu machen” führt noch nicht zu Ambidextrie. Denn in flachen Hierarchien wird immer noch von oben nach unten ‒ und vor allem ohne horizontale Transparenz und Abstimmung – gesteuert. Erst in dezentralisierten Organisationen kann Wertschöpfung gemäß der neuen Marktprinzipien geschehen: Nämlich kundenzentriert, selbstorganisiert und anpassungsfähig, sowie crossfunktional, mit klarer Bestimmung sowie radikalem Fokus auf Wertschöpfung und Kundennutzen (Birkinshaw, 2004, Engelhardt 2017).
Mehr dazu in “Warum flache Hierarchien nur die Fortsetzung des Holzwegs sind”
Das bedeutet, dass sich Unternehmen hin zu Netzwerkorganisationen entwickeln müssen. In solchen Netzwerkorganisationen arbeiten Mitglieder überwiegend autonom (selbstorganisiert) und aufgrund gemeinsamer Ziele zusammen. Dies Neuordnung von Unternehmen in Netzwerkorganisationen ist vor allem für den Erfolg im Search Modus wichtig, unterstützt jedoch auch viele Aspekte der Execution Wertschöpfung. Ein Zielsystem, das es Organisationen erlaubt und sie dabei unterstützt, sich in solche Netzwerkorganisationen zu transformieren, sind Objectives und Key Results (OKR).
Ambidextrie in der Praxis - Level 2: Die Teams
Auf Team-Level geht es vor allem darum, dass Führungskräfte die Fähigkeit zeigen, gleichzeitig Alignment und Anpassungsfähigkeit zu verfolgen. Auf Ebene der Führungskräfte wie auch auf der von Mitarbeitern muss darauf geachtet werden, dass Rollen geschaffen werden, die beide Formen des Lernens und Arbeitens, Search und Execution, unterstützen und begleiten. Zudem ist ein wichtiger Aspekt, die Kommunikationsfrequenz und Kommunikationsqualität in Teams zu steigern. Mehr Kommunikation führt zum einen zur besseren Erkennung von Redundanzen und kann so zu mehr Effizienz beitragen. Des Weiteren fördert mehr Kommunikation und Interaktion mit Teammitgliedern häufig auch die Identifikation neuer Geschäftsmöglichkeiten, mehr Ideengenerierung und das Entdecken kreativer Lösungsmöglichkeiten. In dynamischen und komplexen Umfeldern wird häufige und gute Kommunikation zum Erfolgsschlüssel.
Eine Erhöhung der Frequenz und Qualität von Kommunikation im Team kann beispielsweise durch sogenannte Check-Ins erreicht werden. Das Check-in ist ein kurzes Meeting, in welchem man über Fortschritt, neue Erkenntnisse und Herausforderungen diskutiert. Die Einbettung solcher Meetings in bestehende Prozesse stellt eine vorbestimmte Kommunikationsfrequenz und somit kontinuierliches Feedback und Lernen sicher. Zudem sorgt sie für mehr Transparenz und Verständnis zwischen Teammitgliedern. Außerdem für ein hohes Level an Beteiligung und Verantwortungsbewusstsein im Team.
Ambidextrie in der Praxis - Level 3: Die Einzelpersonen
Auf der Ebene der Einzelpersonen in einer Organisation hat Ambidextrie zunächst viel mit Haltung zu tun. Soll diese Beidhändigkeit wirklich durch das ganze Unternehmen hinweg gelebt werden, muss jeder Mitarbeiter zum aktiven Treiber werden. Das bedeutet, dass jeder Einzelne neue Möglichkeiten suchen und Altbewährtes herausfordern sollte. Die Rolle des Mitarbeiters muss sich im Rahmen von Ambidextrie von einfacher Ressource, ausführender Arbeitskraft und passivem Mitglied der Organisation hin zu einem proaktiven Intrapreneur wandeln, der unternehmerisches Denken in allen Situationen an den Tag legt. Machtdenken und organisationsstrukturelle Konflikte müssen aus der Mentalität getilgt werden und für Kundenzentrierung sowie Wertorientierung weichen (Birkinshaw, 2004, Engelhardt 2017).
Die aktivierten Mitarbeiter müssen durch die neu geschaffene Netzwerkorganisation in ihren erweiterten Rollen befähigt werden. Hierbei spielen Lernen, Feedback und ganz allgemein das Schaffen adäquater Kommunikations- und Informationsstrukturen eine große Rolle. Neben dem Einführen neuer Softwaretools oder Prozesse wie dem OKR Zyklus können auch dedizierte Trainings dabei helfen, Mitarbeiter zu aktivieren und zu befähigen.
Organisationen, Teams und ihren Mitarbeitern stehen eine Vielzahl an Möglichkeiten offen, um sich erfolgreich für nachhaltiges Wachstum in der Zukunft zu positionieren. Unabhängig von der öffentlichen Debatte zum Trend-Thema Ambidextrie wird somit deutlich, dass eine Weiterentwicklung bestehender Organisationsmodelle nicht nur Chance sondern Notwendigkeit ist. In immer dynamischeren und komplexen Marktumgebungen sind Unternehmen mehr denn je gefordert, Geschwindigkeit und Anpassungsfähigkeit als dominierende Erfolgstreiber zu ermöglichen. Ohne Stabilität und Effizienz gänzlich aufzugeben. Die Zukunft gehört daher agilen Netzwerkorganisationen aus selbstorganisierten, kundenzentrierten Teams, die sich durch klare klare Prozesse, Prinzipien und eine Unternehmensbestimmung steuern.